Von Stadtteilmüttern und böhmischen Dörfern

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Am dritten Tag der Azubiwoche der Schweitzer Fachinformationen in Berlin, haben wir bei einer Stadtteiltour mit Gül-Aynur Uzun und Hanadi Mouradauch (welche uns sogleich das Du anboten) Neukölln kennengelernt. Nur wenige Minuten von der bunten, lauten und trubeligen Karl-Marx-Straße, kann man einen ruhigen, fast idyllischen Stadtteil erleben. Dieser Kontrast hat wohl den stärksten Eindruck auf uns hinterlassen. Besonders spürbar wird dieser Gegensatz, wenn man die grüne Oase des Comeniusgarten betritt, doch auch ansonsten wird man überrascht, wie viele Parks und Grünflächen es in diesem Stadtteil gibt. Natürlich haben wir auf der Tour mit Gül und Hanadi viel über die Stadt und ihre Geschichte gelernt.

Besonders eindrücklich war der Besuch der Gemeinde Rixdorf, welche 1737 von Böhmischen Flüchtlingen gegründet wurde und heute Teil des Bezirkes Berlin-Neukölln ist. Die protestantischen Immigranten kamen auf Einladung Königs Friedrich Wilhelm I, da Sie in Ihrer Heimat von den katholischen Herrschern verfolgt wurden. Dort lebten Sie recht abgeschottet vom restlichen Bezirk auf ihre ganz eigene Art und Weise. Wie unsere beiden Tour-Leiterinnen uns in einer hübschen Anekdote erzählten, ist diesem Umstand auch die Redewendung „jemandem böhmische Dörfer sein“ zu verdanken; Ein nicht-böhmischer Einwohner Rixdorfs (das erst 1912 in Neukölln umbenannt wurde) kam dort in die Gemeinde und fand völlig entgeistert gleich mehrere Männer bei der Hausarbeit vor, etwas, das im restlichen Bezirk noch unvorstellbar, also tatsächlich „böhmische Dörfer“ waren. Interessant auch, dass dieses kleine, dörfliche Idyll mit den alten Fachwerkhäusern, heute immer noch von den böhmischen Nachfahren der im 18. Jahrhundert Eingewanderten und dessen Familien bewohnt wird.

Nicht nur die böhmische Einwanderung, sondern Migration allgemein, hat Neukölln immer sehr stark geprägt und eine bunte und multikulturelle Stadt entstehen lassen, welche immer noch ständig im Wandel ist. Unsere beiden Tour-Guides selbst hatten hier viel Spannendes aus ihrer Familiengeschichte zu erzählen, unter anderem wie die Mutter von Gül als Gastarbeiterin nach Deutschland kam, wie sie aufgenommen wurde und wie ihr Leben besonders in der Anfangszeit in Deutschland verlief.

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Ebenso wie die Migration (und auch als eine ihrer Folgen) prägen viele soziale Probleme das Stadtteilbild von Neukölln. Zuletzt sind diese Probleme besonders heftig durch den Fall der Rütli-Schule in die Aufmerksamkeit der Menschen gerückt. Die von einer hohen Gewaltbereitschaft vieler Schüler geprägten Zustände an der Schule, welche öffentlich geworden sind, haben zum letzten Mal zu einer starken Abwanderung aus dem Bezirk und einem rasanten Fall der Mietpreise geführt. Bei unserer Tour haben wir an vielen Stationen Initiativen kennengelernt, welche die sozialen Probleme des Stadtteils bekämpfen möchten, wie beispielsweise der gemeinnützige Verein Aufbruch Neukölln e. V. und das Frauenzentrum „affidamento“.

Zu guter Letzt möchte ich die Aufmerksamkeit auf das Projekt der Stadtteilmütter lenken, bei welchem sich auch Gül und Hanadi für ihren Kiez engagieren. Dieses langjährige Projekt soll Eltern helfen, welche Probleme bei der Integration haben, insbesondere aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse. Das können konkret zum Beispiel Probleme mit Behörden oder mit dem Vermieter sein, aber auch einfach Probleme, im Kiez Anschluss zu finden. Letztendlich soll diese Hilfe Eltern wie Kindern zu Gute kommen. Stadtteilmütter sind immer selbst Migrantinnen, aus der Türkei oder dem arabischen Raum, welche also die Probleme, die die Migration mit sich bringt, aus eigener Erfahrung kennen. Um Stadtteilmutter zu werden, muss man zunächst eine 6-Monatige Ausbildung absolvieren. Nach dieser Qualifikation akquirieren die Stadtteilmütter selbst ihre Kunden. Von den Initiatoren des Projektes bekommen die Stadtteilmütter weiterhin Unterstützung, außerdem gibt es regelmäßig Treffen, in denen sich die Stadtteilmütter eines Bezirkes austauschen können. Nicht nur für die besuchten Familien ist dieses Projekt eine enorme Hilfe, auch für die Stadtteilmütter, für die es oftmals der erste Job überhaupt ist, ist dieses Projekt eine enorme Chance auf Anerkennung, ein geregeltes Einkommen und Selbstverwirklichung.

Vielen von uns hat die Stadtteiltour mit unseren beiden Guides ein völlig anderes Neukölln gezeigt, als wir es erwartet hätten. Wir haben einen Stadtteil mit einer extrem wechselhaften, aber dadurch auch sehr reichen, Geschichte erlebt, indem es zwar viele soziale Probleme gibt, aber mindestens genauso viel Potential dieses zu bekämpfen. Und vor allem viele tolle Menschen, wie Gül und Hanadi, welche bereits viele tolle Dinge erreicht haben und sicherlich in Zukunft noch für Neukölln erreichen werden.

~ Sarah ~

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