Interview mit Katja Kulin zu „Geliebte Orlando“

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Gestern ist bei DuMont frisch Katja Kulins neuer biografischer Roman „Geliebte Orlando“ erschienen und ich hatte die Möglichkeit, mit ihr ein Interview zu führen.

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Wie sind Sie auf die Persönlichkeiten der Virginia Woolf und Vita Sackville-West gestoßen?

Da würde ich gleich ein bisschen weiter ausholen. Es ist ja so, dass ich jetzt schon seit fast zehn Jahren Romanbiografien schreibe und am Anfang, wie z.B. bei den Büchern über Irmgard Keun und Marlene Dietrich, habe ich mehr auf das Leben und Werk als Gesamtes geschaut. Bei meinem Buch über Gala Éluard und Salvador Dalí hat sich für mich gezeigt, wie spannend der etwas detailliertere Blick auf bestimmte Jahre oder besondere Liebesbeziehungen ist. Von da an bin ich dabei geblieben, auch bei „Der andere Mann“ habe ich mir speziell Simone de Beauvoirs Beziehung zu Nelson Algren angeschaut und dazu dann die Werke beider, die in dieser Zeit entstanden sind, genauer beleuchtet.

Um jetzt den Bogen zu schlagen, wie ich auf Virginia Woolf und Vita Sackville-West gekommen bin, ist es so, dass ich Virginia Woolf natürlich schon lange als Schriftstellerin bewundere. Als ich es mir dann zugetraut habe, über sie zu schreiben, war rasch klar, nichts bietet sich mehr an als die einzige intime Beziehung, die sie nachhaltig beeinflusst hat, und das war die zu Vita Sackville-West.

Was war der ausschlaggebende Moment, in dem Sie sich entschieden haben, über diese Beziehung ein Buch zu schreiben?

Ich muss sagen, über Vita Sackville-West wusste ich vorher noch gar nicht so viel. Bevor ich dem Verlag den Vorschlag gemacht habe, habe ich natürlich vorrecherchiert. Ich bin ein bisschen tiefer in Vitas Leben eingetaucht und fand es unglaublich spannend, wie viele Freiheiten sie sich schon zu ihrer Zeit genommen hat, was sie für Abenteuer erlebt und wie sie ihre „Doppelnatur“ ausgelebt hat. Da dachte ich mir, ja, das muss es werden.

Ein anderer Punkt war, dass diese Beziehung für beide Frauen besonders war, diesen Charakter hatte von etwas noch nie Dagewesenem, etwas, das sie noch nie erlebt hatten. Auf der einen Seite hat Virginia zum ersten Mal wirklich ein tiefes Verliebtsein und auch sexuelle Lust erlebt, das kannte sie bis dahin gar nicht und hat sich eher für asexuell gehalten. Vita wiederum fühlte sich vor allem durch Virginias Intellekt beflügelt, hat sie als Schriftstellerin vergöttert, konnte sich ihr aber auch in vielen Dingen anvertrauen, obwohl sie Gefühle sonst eher für sich behielt. Sie fühlte sich verstanden und hat schließlich mit „Orlando“ auch ein literarisches Denkmal von Virginia gesetzt bekommen.

Ein dritter Punkt, der für das Schreiben dieses Buches sprach, ist der, dass die beiden in ihrer Beziehung zueinander, in diesen bewegten Jahren, auch viele gesellschaftliche, persönliche und kulturelle Fragen miteinander verhandelt haben, die uns heute immer noch beschäftigen: Emanzipation, Gleichberechtigung, Geschlechterrollen, Unterschiede zwischen biologischem und sozialem Geschlecht, Unterschiede zwischen Liebe und Freundschaft, nicht zuletzt auch Unterschiede zwischen guter und schlechter Literatur. Das sind ja alles Dinge, das habe ich auch in meinem Nachwort betont, die uns auch heute noch angehen und beschäftigen.

Sie sagten in Ihrem Nachwort außerdem, dass Sie möglichst nah an den Fakten bleiben wollten. Wie sind Sie damit umgegangen, wenn dies nicht möglich war?

Nah an den Fakten bleiben, das heißt ja, z.B. Tagebücher und Briefe der beiden zu analysieren, aber auch ihre Romane, die Lebensläufe und die Äußerungen von Personen aus dem Umfeld, und daraus entwickelt sich dann ein großes Bild. Dieses große Bild enthält natürlich immer auch Widersprüche, mit denen man umgehen muss, doch letztlich zeigen sie einfach die Vielschichtigkeit des Menschseins auf. Wir alle verhalten uns doch dann und wann widersprüchlich. Natürlich ist es so, dass vieles trotz der zahlreichen Quellen im Dunklen bleibt, dass z.B. die Dialoge grundsätzlich von mir in einem gewissen Sinne ausgedacht sind, denn was die beiden miteinander erlebt und was sie besprochen haben konnte ich zwar aus ihren Briefen und Tagebüchern entnehmen, aber eben nur indirekt. Ich gebe die bekannten Fakten also so gut wie möglich wieder, auch im Sinne des Gesamtbildes, das sich während der Recherche ergibt, gestalte sie aber dabei und bette sie in einen romanhaften Kontext ein.

Nur eine kleine Szene habe ich im Prinzip wirklich frei erfunden. Sie spielt in Sevenoaks, als die beiden vor ihrer ersten gemeinsamen Nacht im Dörfchen einkaufen. Sie waren tatsächlich dort, aber belegt sind nur der Besuch eines Fischgeschäfts und Virginias ungewohnt ausgelassene Stimmung an diesem Tag. Um diese abzubilden, habe ich die beiden Frauen in eine fiktive Handlung gesetzt, mit der ich dann außerdem gleichzeitig etwas über Vitas Kindheit vermitteln konnte, weil sie eine Erinnerung an Vitas Versuch auslöst, von zu Hause wegzulaufen.

Wenn Sie in der Zeit zurückreisen könnten, was würden Sie zu den beiden sagen?

Ich würde Vita erzählen, dass sich ihr Wunsch, die Gesellschaft möge offener und toleranter in Bezug auf gleichgeschlechtliche Liebe und Menschen, die sich irgendwo zwischen den Polen „Mann“ und „Frau“ ansiedeln, werden, den sie in ihrer geheimen Biografie geäußert hat, etwa hundert Jahre später wenigstens halbwegs erfüllt hat. Ich würde ihr sagen, dass wir zumindest auf einem guten Weg sind, auch wenn es ein paar Rückschritte gibt, und dass sie für viele auf diesem Weg ein Vorbild war und immer noch ist.

Virginia würde ich wahrscheinlich erzählen, weil sie immer auch sehr an sich als Schriftstellerin gezweifelt hat, dass ihre Bücher auch heute noch gefeiert werden, dass nicht alles umsonst war, wie sie manchmal befürchtet hat.

In Ihrer Widmung thematisieren Sie, dass viele immer noch nur im Verborgenen sie selbst sein können. Wie sehen Sie aktuell die Lage der LGTBQ-Szene?

Erst einmal möchte ich nicht für mich in Anspruch nehmen, ein umfassendes Bild der Szene abgeben zu können. Das ist, glaube ich, unmöglich, weil es auch so viele Bereiche gibt, in denen die Lage sicher unterschiedlich aussieht. Ich kann aber ein bisschen erzählen, worauf sich die Widmung bezieht. Ich habe dabei an eine Freundin von mir gedacht, die transsexuell ist. Sie lebt in einer kleinen Stadt in Baden-Württemberg und kann sich nicht zeigen, wie sie ist, lebt nach außen hin als Mann, was einmal an dem konservativen Umfeld liegt, aber auch daran, dass sie noch mit anderen psychischen Herausforderungen zu kämpfen hat, die es eben schwierig machen, sich frei zu zeigen und selbstbewusst aufzutreten. Gerade Menschen, die z.B. soziale Phobien haben, haben es einfach noch mal schwerer, nach außen zu gehen, besonders wenn sie in einem sehr restriktiven, konservativen Umfeld leben. Das gibt es leider immer noch, auch wenn wir in Deutschland insgesamt betrachtet schon so viel offener geworden sind. Darauf wollte ich aufmerksam machen. Ich habe auch schon Äußerungen gehört wie: „Ist jetzt wohl modern, transsexuell zu sein!“ Menschen, die so etwas sagen, übersehen natürlich, dass es Dinge wie Transsexualität und weitere Auffächerungen immer schon gegeben hat. Auch das transportiert, so hoffe ich, „Geliebte Orlando“.

Abschließend, haben Sie Pläne für weitere biografische Romane?

Ich hätte Ideen verschiedener Art, ja, ich glaube aber, als Nächstes werde ich einen rein fiktiven Roman schreiben.

~ Nicolas aus Stuttgart ~  

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